Gedanken zum 31. Sonntag im Jahreskreis
Liebe Leserin, lieber Leser,
es ist an der Zeit, eine Sache eindeutig klarzustellen: Das Christentum ist keine Gesetzesreligion!
In einer Gesetzesreligion gehen die Gläubigen davon aus, dass Gott eindeutige Gesetze, Regeln und Gebote aufgestellt hat und dass diejenigen, die es schaffen, möglichst wenig Gesetze, Regeln und Gebote Gottes zu übertreten, bei Gott das größte Wohlgefallen finden. Menschen, denen es nicht so gut geht, sind selbst dafür verantwortlich, weil sie irgendwann irgendwelche Gebote übertreten haben.
Im Christentum gibt es auch Regeln und Gebote, aber sie sind kein Selbstzweck. Außerdem zeigt das Leben, dass in den entscheidenden Momenten entweder kein Gesetz greift oder mindestens zwei gleichwertige Gesetze einander widersprechen.
In einer Gesetzesreligion bildet sich schnell eine Zweiklassengesellschaft. Es gibt eine kleine Minderheit derer, die von sich behaupten, die Gesetze Gottes zu kennen und auslegen zu dürfen. Die große Mehrheit muss sich von ihnen erklären lassen, was sie zu tun und zu lassen haben. Im Christentum ist das jeweilige Gewissen die letztentscheidende Instanz. Wir haben die Aufgabe, unser Gewissen zu bilden und dafür möglichst viele vertrauenswürdige Personen der Gegenwart und der Vergangenheit zurate zu ziehen, aber entscheiden müssen wir selbst, weil wir die Konsequenzen der Entscheidung auch selbst tragen.
Jede Religion gerät in die Versuchung, eine Gesetzesreligion zu werden, auch das Christentum. Es scheint für die einen verlockend, anderen sagen zu dürfen, was sie zu tun und zu lassen haben und dabei die eigenen Vorstellungen zum Willen Gottes zu erklären. Für die anderen erscheint es einfach, nicht selbst entscheiden zu müssen, sondern sich alles vorgeben und vorschreiben zu lassen, was sie tun müssen, um „in den Himmel zu kommen“.
Vielleicht fallen Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, Zeiten, Regionen oder Personen ein, die der Versuchung der Gesetzesreligion erlegen sind, und Sie erinnern sich auch an Christinnen und Christen, die entweder behaupten, anderen sagen zu dürfen, was sie zu tun und zu lassen haben, oder die sich fraglos bestimmen lassen.
Im Neuen Testament sind es die sogenannten Pharisäer, die der Versuchung der Gesetzesreligion erliegen. Sie werden von Jesus entlarvt als Menschen, die aus dem, was ihnen überliefert wurde, das Gegenteil von Religion machen. Sie belasten ihre Mitmenschen mit Regeln und Gesetzen, die sie selbst nicht einhalten wollen. Und sie nutzen Ihre Rolle als Machtposition aus, um andere zu unter- drücken. Wenn wir die scharfe Kritik Jesu an den Pharisäern lesen, ist sie für uns eine Mahnung, dass wir nicht auf die gleiche Weise der Versuchung der Gesetzesreligion erliegen.
Zugleich ist die Botschaft Jesu eine Verheißung: Wir dürfen Religion als Befreiung erleben. Jesus ist Mensch geworden, um uns Lasten zu nehmen. Er ist gekommen, um uns zu befreien. Er zeigt uns, wie wir das Gute suchen, und befähigt uns, es in die Tat umzusetzen. Jesus selbst hat es vorgelebt und für uns möglich gemacht.
Wenn wir heute den Sonntag begehen, dürfen wir feiern, dass das Christentum keine Gesetzesreli- gion ist, sondern eine Religion der Befreiung und der Befähigung.
Ihnen und allen, die zu Ihnen gehören, wünsche ich einen gesegneten Sonntag
Ihr Winfried Rottenecker, Diakon