Wenn man den Statistiken Glauben schenken möchte, sind im Jahr 2023 die Mehrheitsverhältnisse gekippt. Die Menschen in Deutschland, die sich den Christlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften zugehörig fühlen, sind nicht mehr die Mehrheit. Es gibt eine sehr große Anzahl derer, die keiner Religion angehören, und einige, die anderen Religionen zugehörig sind. Die Christinnen und Christen machen fast die Hälfte der Deutschen aus, aber eben nur fast. Eine andere Statistik sagt, dass von allen Menschen in Deutschland nur 6% ihre Religion – egal welche – aktiv ausüben. 94% haben entweder keine Religion oder praktizieren sie nicht. Die Jahresstatistik für das Bistum Essen gibt an, dass im gesamten Bistum Essen im Jahr 2023 im Durch- schnitt 33.128 Menschen sonntags einen katholischen Gottesdienst besucht haben. Allein die Arena auf Schalke hätte übrigens 45.000 Sitzplätze.
Ein großer Teil der Menschen in Deutschland hat also keinen Bezug zum Christentum, weiß nicht, wie Chris- tinnen und Christen Gottesdienst feiern, wie sie beten oder was sie beten, was die zentralen Inhalte des christlichen Glaubens sind. Sie wissen nicht, wie christliches Leben aussieht. Sie kennen das Vater Unser und das Glaubensbekenntnis nicht und haben vermutlich noch nie eine Kirche von innen gesehen. Sie kennen keine Geschichte aus der Bibel und wissen nicht, welche Personen oder Ereignisse für das Christentum wich- tig sind. Alle haben im Kalender Termine stehen wie „Weihnachten“, „Ostern“, „Pfingsten“ oder „Christi Him- melfahrt“, aber ein großer Teil der Menschen in Deutschland weiß nicht, warum diese Termine im Kalender stehen und was sie bedeuten. Manche kennen noch Redewendungen, die aus der Bibel stammen, wie „Per- len vor die Säue werfen“, „die andere Wange hinhalten“, „nach mir die Sintflut“ oder andere, aber die meis- ten wissen nicht, aus welchem Zusammenhang sie stammen und welche Bedeutung sie ursprünglich haben. Die meisten Menschen in Deutschland kennen die zentralen Glaubensinhalte des Christentums nicht und verstehen die zentralen Begriffe nicht: „Ewiges Leben“ – was ist das? „Nächstenliebe“ – was soll das sein?„Vergebung der Sünden“ – wozu braucht man das? Wenn sie hören, dass das Leben stärker sein soll als der Tod, die Liebe mächtiger als der Hass und dass die Wahrheit sich gegen die Lüge durchsetzen wird, können sie sich nicht vorstellen, was damit gemeint sein soll, weil doch der Tod genauso allgegenwärtig ist wie etwa Hass, Gewalt und Lüge. Im Leben der Mehrheit der Menschen in Deutschland finden die zentralen Aussagen des Christentums nicht statt.
Angesichts dieser Entwicklung könnten wir uns in frühere Zeiten zurückwünschen, in denen angeblich alles besser war. Oder wir könnten uns als keine Clique zusammenschließen, der es egal ist, was die anderen sa- gen. Oder wir schauen auf die Predigt Jesu, wie sie uns im heutigen Sonntagsevangelium präsentiert wird. Schon die ganzen letzten Wochen hören wir die große, zentrale Predigt Jesu im Anschluss an die Brotver- mehrung. Und wir müssen feststellen, dass es nicht einmal Jesus selbst, obwohl er doch der allwissende und allmächtige Sohn Gottes ist, gelingt, die zentralen Inhalte seiner frohen Botschaft so zu formulieren, dass die Menschen sie annehmen können. Ganz im Gegenteil, am Schluss seiner Predigt ist von der unge- heuren Menge von Menschen, die am Anfang da waren, so gut wie niemand mehr übrig. Fast alle sind ge- gangen, weil sie die Predigt Jesu nicht mehr hören konnten und wollten. Von anfangs 5000 Männern, zu- sammen mit Frauen und Kindern, sind gerade einmal 12 übrig, das übertrifft selbst die Zahlen der Statisti- ken unserer Zeit. „Und“, fragt Jesus die Zwölf, „wollt auch ihr gehen?“
Selbst für die zwölf Apostel war die Frohe Botschaft Jesu eine Herausforderung, ja geradezu eine Provoka- tion. Nicht einmal für sie war es selbstverständlich, die Botschaft Jesu anzunehmen. Weder für sie noch für uns sind die zentralen Inhalte des Glaubens selbstverständlich. Weder für sie noch für uns ist sofort klar, was die Botschaft Jesu bedeutet und wie wir sie verstehen sollen. Petrus ringt lange um eine Antwort, bis er zu dem Bekenntnis in der Lage ist: „Du hast Worte des ewigen Lebens.“
Gerade wenn etwas nicht selbstverständlich ist, lohnt es sich, darum zu ringen. Gerade wenn etwas nicht sofort einleuchtend und überzeugend ist, lohnt es sich, darüber nachzudenken und es für heute neu zu übersetzen. Gerade weil wir Christinnen und Christen in der Minderheit sind, lohnt es sich ganz neu zu überlegen, was es bedeutet, dass das Leben stärker sein soll als der Tod, die Liebe mächtiger als der Hass und dass die Wahrheit sich gegen die Lüge durchsetzen wird. „Ewiges Leben“ – was ist das? „Nächsten- liebe“ – was soll das sein? „Vergebung der Sünden“ – wozu braucht man das?
Liebe Leserin, lieber Leser, ich wünsche uns allen, dass wir in unserem jeweiligen Ringen um eine Antwort ganz neu zum Bekenntnis des Petrus gelangen, gerade weil klar ist, wie wenig selbstverständlich diese Ant- wort ist, und dass in unserem jeweiligen Leben es sich bewahrheitet: „Herr, du hast Worte des ewigen Lebens.“
Ihnen und allen, die Ihnen am Herzen liegen, wünsche ich einen gesegneten Sonntag. Ihr Winfried Rottenecker, Diakon