Gedanken zum 12. Sonntag im Jahreskreis
Blick auf die Totale: ein Fischerboot auf einem großen See, sanfte Hügel im Hintergrund. Das Wasser und leise Musik plätschern. Schnitt. Dunkle Wolken ziehen auf, die Musik wird dramatischer. Schnitt. Männer in groben Gewändern und langen Bärten schauen sich um, zeigen auf die dunklen Wolken. Schnitt. Sturm kommt auf, Wellen türmen sich, Regen peitscht über das Wasser, das Boot beginnt zu schaukeln, dramatische Musik schwillt weiter an. Schnitt. Ein Mann gibt kurze Kommandos mit tiefer Stimme, die anderen antworten.
Der Sturm zerrt an ihren Bärten, Regen spritzt in ihre Gesichter, die Gischt der Wellen spritzt quer durchs Bild. Schnitt. Der Lärm der Wellen, des Sturms und der dramatischen Musik wird ohrenbetäubend, die Männer schreien, aber man versteht sie nicht, angsterfüllte Augen. Schnitt. Überall Wasser, riesige Hände mit zu kleinen Eimern schaufeln Wasser aus dem Boot. Nackte Männerfüße stehen bis zu den Knöcheln im aufgewühlten Wasser. Welle um Welle schwappt über die Reling. Wasser überall. Schnitt. Im Hintergrund liegt ein Mann im Boot. Ist er tot? Nein, er schläft. Überall Wasser, aber er ist trocken. Die Männer werden auf ihn aufmerksam. Sie rütteln ihn. Schnitt. Das Gesicht des schlafenden Mannes im Fokus. Dramatische Musik, aber kein Wasserrauschen mehr. Schnitt. Der Mann öffnet langsam die Augen. Musik wechselt zu mächtiger Fanfare. Schnitt. Der Mann steht auf, mitten im Sturm, wird aber nicht nass. Schnitt. Der Mann schaut über den aufgewühlten See. Schnitt. Das Gesicht des Mannes im Fokus. Leise, aber bestimmt sagte der Mann:
„Schweig, sei still.“ Schnitt. Der ruhige See in der Totale. Leise Flötenmusik. Der Himmel reißt auf, die Sonne strahlt und leuchtet über den spiegelglatten See. Schnitt. Der trockene Mann schaut die nassen Männer an. Erleichterte Gesichter. Schnitt. Harmonische Musik. Blick über den See. Der trockene Mann mit ausgebreiteten Armen umringt von den nassen Männern. Ende.
So oder so ähnlich könnte das heutige Evangelium filmisch umgesetzt werden. Leider gibt es solche Szenen nur im Kino oder im Fernsehen. In unserem Alltag gibt es solche Wunder offensichtlich nicht.
Und was ist mit den sprichwörtlichen Stürmen in unserem Leben? Was ist, wenn das Boot unseres Lebens im übertragenen Sinn unterzugehen droht? Wie schön wäre es, wenn wir einen Taschen-Jesus dabeihätten, den wir nur hervorkramen müssten, um den Sturm zum Schweigen zu bringen. Wir müssten den Taschen-Jesus nur ein wenig rütteln und er würde alle unsere Sorgen wegzaubern. Oder wie schön wäre es, wenn wir einen Jesus-Automaten hätten. Wir würden oben eine Münze oder ein Gebet einwerfen und unten käme die Ret tung heraus. Schade, dass es so etwas nicht gibt.
Wenn wir die Geschichte auf diese Weise lesen, bleiben tatsächlich nur die Enttäuschung und die Frage: „Habt ihr noch keinen Glauben?“
Aber vielleicht geht es gar nicht um die Jünger und deren Glauben, sondern um Jesus. Wer ist dieser Jesus und wie reagiert er? Die Jünger erwarten von ihm, dass er auch einen Eimer nimmt und Wasser schaufelt und sind sauer, weil er stattdessen schläft. Sie wollen, dass er sich ihrem Kommando unterwirft. Sie wecken ihn, damit er bei ihnen mitmacht. Aber Jesus macht nicht bei ihnen mit, er reagiert ganz anders, viel besser, unvorstellbar viel besser.
Vielleicht ist das die Botschaft des heutigen Sonntags, dass wir keinen Taschen-Jesus und keinen Jesus-Automaten brauchen, dass es nicht möglich und nicht nötig ist, Jesus unter unser Kommando zu zwingen, dass er ganz anders reagiert, als wir es uns wünschen.
Vielleicht ist das die Botschaft des heutigen Sonntags, dass Jesus gerade dann mit uns im Boot sitzt, wenn wir meinen unterzugehen, und dass seine Gegenwart ganz anders ist als erwartet, viel besser, unvorstellbar viel besser.
Ihnen und allen, die Ihnen am Herzen liegen, wünsche ich einen gesegneten Sonntag.
Ihr Winfried Rottenecker, Diakon