Gedanken zum zehnten Sonntag im Jahreskreis
Vor ein paar Tagen traf ich eine Ehrenamtliche unserer Pfarrei, die vor kurzem Mutter geworden ist. Ich war ganz verblüfft, dass die Tochter schon fast zwei Jahre alt ist: Ach, wie schnell die Zeit doch vergeht …
„Wir haben uns ja auch schon lange nicht mehr in der Kirche gesehen“, meinte ich. Da erzählte mir die junge Mutter, dass sie mit dem Säugling einmal im Gottesdienst war. Weil das Mädchen aber ein wenig unruhig gewesen sei, habe sie nur böse Blicke geerntet und sei deshalb nicht wiedergekommen. „Das war sicher nicht so gemeint,“ versuchte ich zu beschwichtigen, aber sie blieb hart: „Doch, mehrere Personen haben sich umgedreht und uns böse Blicke zugeworfen.“
Es sollte doch selbstverständlich sein, dass auch kleine Kinder mit in die Kirche kommen dürfen, aber so selbstverständlich ist das offenbar nicht. Wie viele Menschen berichten, dass sie bis ins hohe Alter hinein darunter leiden, dass sie als Kinder sonntags zur Kirche gehen und absolut stillsitzen mussten, sich nicht bewegen und keinen Mucks von sich geben durften, weil die Kirche schließlich ein heiliger Ort sei. Mit welch harter Hand wurde diesen Menschen regelrecht eingebläut, dass sie in der Kirche immer fromm und brav sein müssen?!
Niemand wird leugnen, dass jeder Gottesdienst ein heiliges Geschehen ist, bei dem alle andächtig und aufmerksam zuhören, mitbeten, mitsingen und mitfeiern sollen. Aber hat das zur Folge, dass nur die kommen dürfen, die sich permanent gut benehmen können und die ganze Zeit aufmerksam sind – also nur Makellose und Fromme? Wer dürfte dann überhaupt noch kommen, wenn nur Heilige zugelassen sind? Niemand mehr dürfte das Kirchengebäude betreten, niemand wäre noch Kirche – und die, die kämen, wären Scheinheilige.
Im heutigen Evangelium hören wir, dass Jesus damals vor der gleichen Frage stand. Er wird kritisiert, weil er sich von Zöllnern und Sündern zum Essen einladen lässt; er solle gefälligst nur mit Rechtgläubigen und Frommen verkehren. Die Antwort Jesu ist eindeutig: „Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“ Er spitzt die Aussage noch zu: „Ich bin nicht gekommen, um Gerechte zu rufen, sondern Sünder.“
Freuen wir uns also über jeden Menschen, der zur Kirche kommt und das Kirchengebäude betritt: die Kleinkinder, die manchmal quengeln, die größeren Kinder, die manchmal zappeln, die Jugendlichen, die keinen Bock haben, die jungen Erwachsenen, die alles in Frage stellen, die Berufstätigen, die bei dem ganzen Stress nichts mehr wünschen als ein paar Stunden Ruhe, die Älteren, die nicht mehr so beweglich sind, denn sie alle sind von Gott gerufen!
Schauen Sie sich einmal in der Kirche um, liebe Leserin, lieber Leser!
Sehen Sie die Traurigen, die Erschöpften, die Trauernden, die Verängstigten, die Ungeduldigen, die Zweifelnden?
Sie alle sind in der Kirche willkommen, weil Jesus gerade für sie da ist. Bemerken Sie die, die laut, aber etwas zu spät die Antworten geben, deren Handy mitten im Gottesdienst klingelt, die während der Predigt ein wenig dösen, die beim Singen den Ton nicht treffen, die nicht so gut riechen wie andere, die nicht so gut gekleidet sind, oder die, denen man von Weitem ansieht, dass sie schon so lange nicht mehr mit einem anderen Menschen gesprochen haben? Freuen wir uns über jede und jeden von ihnen, weil Jesus selbst sie eingeladen hat.
Wenn Sie sich umsehen, liebe Leserin, lieber Leser, dann sehen Sie die, von denen Jesus sagt, sie seien Kranke, die des Arztes bedürfen. Und wenn wir dann auf uns selbst schauen, dürfen wir zuge- ben, dass auch wir zu ihnen gehören. Auch wir zählen zu den Sünderinnen und Sündern, die der barmherzigen Liebe Gottes bedürfen. Wir dürfen froh sein und Gott danken, dass wir zu denen gehören, die er gerufen hat.
Liebe Leserin, lieber Leser, schön, dass Sie da sind!
Ihnen und allen, die zu Ihnen gehören, wünsche ich einen gesegneten Sonntag Ihr Winfried Rottenecker, Diakon